Saumverkehr im Rheinwald
Es ist auch anzunehmen, dass die um 1270 im Rheinwald eingewanderten Walser schon bald einmal im Transitverkehr einen Teil ihres Auskommens fanden. Ein entscheidendes Ereignis war der Ausbau des Viamala-Weges im Jahre 1473, der einen lebhaften Handel und Warenaustausch zwischen Norden und Süden erst richtig ermöglichte. Bunt war die Fülle der Transitgüter: Getreide, Reis, Salz, Früchte, Butter und Käse, Weine, Häute und Leder, Seide, Leinwand aus Konstanz und St. Gallen, Damast, Barchent aus Como und den Rheinlanden, Samt und Baumwolle, Silberwaren aus Nürnberg, Werkzeuge, Waffen und Rüstungen aus Mailand und Brescia, orientalische Gewürze, Farbstoffe und Öle über die beiden Mittelmeerhäfen Genua und Venedig.
Der Aufschwung des Warentransports und eine dauernde Benutzung der Wege über die Rheinwalder Pässe verlangte eine entsprechende Organisation. Die Lösung wurde in den sog. "Porten" (ital. portare = tragen) gefunden. Sechs solcher Fuhrmannszünfte gab es an der "Unteren Strasse", die von Chur über die Rheinwalder Pässe in die Lombardei führte: Rhäzüns, Thusis mit Cazis und Masein, Schams, Rheinwald, Misox und St. Jakobstal (Valle San Giacomo). Diese Porten besassen ein Transportmonopol: Sie allein durften die Waren transportieren, sie waren aber auch jederzeit dazu verpflichtet. Im weiteren sorgten sie für den Unterhalt von Weg und Steg, wofür sie jedoch ein Weggeld erheben konnten.
Grundsätzlich wurden die Waren von einer Port, bzw. Sust (Warenniederlage) zur andern transportiert. Im Rheinwald existierten nur drei Susten, eine in Splügen, eine auf dem Splügenberg und eine andere in Hinterrhein. Nur dort, wo keine Susten bestanden, brachte man am Abend die Saumlasten jeweils ins eigene Haus; dies ist der Grund für die mächtigen Hausflure in vielen Rheinwalder Häusern. Die Port Rheinwald beförderte die Güter von Andeer bis Splügen, von Montespluga bis Splügen, bzw. vom Bernhardin-Hospiz bis Hinterrhein und Splügen. Diese Verkehrsteilung hatte zur Folge, dass die Waren zwischen Chur und Chiavenna, bzw. Mesocco fünf- oder sechsmal umgeladen werden mussten. Einem raschen Transport war diese Monopolstellung der Porten keineswegs förderlich, und im Sommer kam es oft vor, dass Waren zwischen der Bündner Metropole und der Lombardei statt fünf bis sechs Tage drei bis vier Wochen unterwegs waren.
Trotzdem hielt man an diesem System mit der grössten Zähigkeit fest, und erst 1861, Jahrzehnte nach dem Bau von modernen Strassen über Splügen und Bernhardin, wurden die Portenrechte, die für viele Bündner während Jahrhunderten existenzsichernd waren, durch Bundesbeschluss als Verstoss gegen die Gewerbefreiheit ohne jegliche Entschädigung endgültig aufgehoben. Man darf behaupten, dass der Transitverkehr über die Bündner Pässe früher recht demokratisch und föderalistisch organisiert war. Ein Kaspar Jodok Stockalper beispielsweise, dem es im 17. Jahrhundert gelang, den gesamten Simplonverkehr und vor allem den Salzhandel an sich zu reissen, wäre in Bünden nicht vorstellbar gewesen. Trotzdem muss man festhalten, dass auch hier das Speditionsgeschäft die Angelegenheit einiger weniger, einflussreicher Leute war. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Churer Spediteure Salis, Massner und Bavier, erinnert sei auch an die "führenden Familien" in den Hinterrheintälern. Diese lokale Oberschicht, die sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich eine Spitzenposition einnahm, konnte sich dank des Handels mit italienischen Importgütern, der Einkünfte aus den begehrten Veltliner-Ämtern und den fremden Kriegsdiensten eine solide Geschäftsbasis sichern, die es ihr u.a. erlaubte, prächtige Palazzi in den Rheinwalder Dörfern zu erbauen.
Aber wie sahen denn die Existenzbedingungen für einen durchschnittlichen Säumer aus? In einer "Beschreibung der Gemeinde Splügen im Jahre 1809" heisst es: "Es ist gewiss, dass das Fuhrmannsgewerbe die Männer in ihren besten Jahren entweder hinwegrafft oder in Krankheiten stürzt, die auch zum frühen Tod der gezeugten Kinder führen. 50 Prozent der Menschen sterben zwischen null und zehn Jahren... Der Wohlstand der Gemeinde nimmt - wenige Familien ausgenommen - täglich ab, weil in den Wirtshäusern immer mehr als der Gewinn verzehrt wird." Auch wenn man die Arbeit von Jürg Simonett ("Verkehrserneuerung und Verkehrsverlagerung in Graubünden") durchgeht, so spürt man, dass das Portensystem zwar durchaus dazu führte, dass beinahe jeder Einheimische am Warentransport teilhaben konnte, wobei aber der zu erzielende Verdienst keine hohen Wellen warf. In diesem Zusammenhang muss man sich vor Augen halten, dass zum Beispiel im Rheinwald einst jeder zweite Erwachsene mit dem Warentransport beschäftigt und von diesem abhängig war.
Das Transportwesen war auch immer wieder enormen Belastungen und Gefährdungen ausgesetzt. Schon im 13. Jahrhundert setzten Bemühungen ein, aus dem Gotthardpass einen internationalen Transitweg zu machen, aber auch sonst erwuchs dem Rheinwald immer wieder starke Konkurrenz, die zu einem stetigen Auf und Ab führte: Einmal war es der Brenner im Osten, einmal war es der benachbarte Septimer, oder dann erlebten die Alpenpässe im Westen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Dies führte dazu, dass die Routen über Splügen und Bernhardin immer wieder ausgebaut und verbessert werden mussten, und trotzdem liessen sich recht starke Schwankungen im Transportvolumen nicht ausschliessen. Nach 1650, als in Graubünden nach den Bündner Wirren ruhigere politische Zustände herrschten, begann die Blütezeit des Splügentransits, um 1700 gingen 5000 bis 9000 Saumlasten pro Jahr über den Pass, wiederum 50 Jahre später stieg dann die Zahl auf runde 30'000 Saumlasten! Nach dem Ausbau der Alpenstrassen stieg der Warenumschlag über den Splügen nochmals an und erreichte 1856 mit 27'100 Tonnen seinen höchsten Stand, obwohl der endgültige Niedergang des Rheinwalder Transportverkehrs bereits begonnen hatte. Bis vor einigen Jahrzehnten hatte man allgemein angenommen, einzig die Eröffnung des Eisenbahntunnels durch den Gotthard (1882) sowie der Bau der Brennerbahn (1867) und derjenigen durch den Mont Cenis (1872) hätten dem Warentransit über die Bündner Pässe den Todesstoss versetzt. Dies trifft teilweise zu, denn bereits um 1825, als die neuerbauten Fahrstrassen über die beiden Pässe den traditionellen Säumer überflüssig machten, wurde in den Hinterrheintälern die Existenzfrage erstmals gestellt. Nun konnte man einerseits mit vermindertem Aufwand eine gesteigerte Transportleistung erbringen, andererseits wirkte die Einführung der freien Konkurrenz im Warentransport in die gleiche Richtung, indem sie die den Speditoren nicht genehmen Fuhrleute brotlos machte und eine weitere Reduzierung des Fuhrlohns nach sich zog.
Splügen und Bernhardin darf man als die eigentlichen Lebensadern am Hinterrhein bezeichnen, war einst und ist noch heute hier eine Bevölkerung während langen Zeiten eng mit zwei wichtigen und relativ leicht begehbaren Passübergängen zwischen Norden und Süden verbunden.
Text: Kurt Wanner