Das Nachtvolk verspeiset ein Kuh / Großes Walsertal
Der Hirte sah ihnen eine Weile zu. Je länger er dies tat, umso mehr wurde ihm unheimlich bei der Sache. Plötzlich rief ihm einer der Leute zu: „Los du da oben auf der Pritsche, magst du kein Fleisch?" Der Hirt antwortete: „Ja, ich mag!“ und darauf musste er herab von seiner Lagerstätte und mithalten. Das Fleisch war gut, aber auf einmal merkte er, dass seine schwarze Kuh im Stalle draußen ein ungeheures Loch im Leibe hatte und dachte: „Die Kerle haben das Fleisch meiner Kuh aus dem Leibe geschnitten und bis es Morgen wird, fressen sie dieselbe ganz auf." Er machte aber wohlweislich vor den fremden Gästen seinem Arger nicht Luft. Nachgerade fingen die Leute an zu musizieren und zu tanzen, dass die Alphütte fast aus den Fugen ging. Der Hirte schaute stillschweigend zu, bis ihn einer der Fremden fragte: „Willst du nicht Musik lernen?" „Ja, recht gerne", sagte er, „besonders gerne würde ich Flöte spielen." Da gab dieser ihm eine Flöte in die Hand und wies ihn an, nur tüchtig zu blasen. Er tat, wie man ihm befohlen und siehe da, er konnte die Flöte gar zierlich und lieblich blasen, als hätte er es jahrelang gelernt. Er hatte nicht gewusst, dass er ein solcher Musikus war. In der Freude über die so plötzlich errungene Kunstfertigkeit hatte er die schwarze Kuh im Stall draußen ganz und gar vergessen. Bei Tagesgrauen fuhren die Fremden ab; der Hirt schaute ihnen nach und dabei sah er an der Türe der Alphütte eine Haut ausgespannt. Sie glich jener seiner schwarzen Kuh. Als es vollends Tag geworden war, war die Kuhhaut an der Tür verschwunden. Der Hirt sah seine Kuh unversehrt in der Alphütte stehen und die Flöte, die er in der Nacht so trefflich geblasen hatte, war ihm geblieben und er nahm sie und die schwarze Kuh mit nach Hause.
(Ähnliche Sagen wie die mit der Kuh, die vom fahrenden Heer verspeist wird, sind weit über das Walsergebiet, ja bis nach China, bekannt.)