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Walser Regionen | Vallorcine

Vallorcine

Walser im Tal der Bären

Vallorcine ist eine französische Gemeinde mit rund 400 Einwohnern und liegt im Grenzland zwischen Frankreich und der Schweiz. Das Dorf liegt auf 1.260 m, etwa auf halbem Weg zwischen Chamonix-Mont-Blanc und Martigny, rund 65 Kilometer ostsüdöstlich der Stadt Genf. Der Ortsname geht auf das lateinische Wort ursus (Bär) zurück und bedeutet Tal der Bären. Im September 2020 wurde Vallorcine offiziell von der Internationalen Vereinigung für Walsertum in Brig (IVfW) in die Walserfamilie aufgenommen. Ein längst überfälliger Schritt, denn die Vallorcins identifizieren sich als Walser. Selbstbewusst schauen sie auf ihre 750-jährige Geschichte, die in Frankreich ein einzigartiges Erbe darstellt.

Am Ende der Welt angekommen, so müssen sich die ersten Siedler wohl gefühlt haben, die vom Wallis über den Col de Balme (Pass) ins Tal nordwestlich des Mont-Blanc-Massivs abstiegen. Steile, bewaldete Abhänge, ein schmaler Talgrund durchflossen von einem Bach, der sich durch enge Schluchten hinunter ins Rhonetal zwängt. Über die ersten Menschen in dieser Terra incognita, dem heutigen Vallorcine, ist wenig bekannt. Sicher ist, dass das Tal von Vernayaz bis zum Col des Montets oberhalb von Chamonix seit der Antike eine nicht unwichtige
Verbindungsroute zwischen dem Rhonetal und dem Tal der Arve mit dem Col des Montets als Wasserscheide ist.

Im Jahre 1091 erstmals erwähnt
Erwähnt wird das Tal erstmals in einer Schenkung von 1091. Graf Aymon von Genf hat der Abtei des Heiligen Michel de la Cluse von Chamonix das obere Arve-Tal von Servoz bis zum Col de Balme geschenkt. Allerdings deutet in der Urkunde nichts auf eine ständige
Besiedlung zu jener Zeit hin. Trotzdem ist nicht ausgeschlossen, dass im Tal schon Menschen wohnten und hier nicht nur Hirten und Jäger sporadisch unterwegs waren. Wäre da nicht die Urkunde von 1264, würde der Ursprung der Kolonisten aus dem Wallis wohl endgültig im Dunkel der Vergangenheit verloren gegangen sein. Keine Familiennamen und kaum mehr Flurnamen, die sonst so präzise Ursprungsbezeichnung der Walsersiedlungen sind, weisen auf den alemannischen Ursprung hin. Ortsbezeichnungen wie Bodo oder Egga, im Sand oder Ägerte finden sich im Talkessel zwischen Col des Montets und dem Col de la Forclaz kaum mehr. Einzig der Flurname Griebe
für die Geländebezeichnung Grube oder Graben ist ein dezenter Hinweis auf die Walser Sprache.

Urkunde von 1264: „Vallis Ursina“
In der oben erwähnten Urkunde erhalten die deutschen Kolonisten, Teutonici genannt, vom Prior von Chamonix die Hälfte „Vallis Ursina“ (Tal der Bären) als Erblehen mit ausdrücklicher Zusicherung der Freizügigkeit. Paul Zinsli bezeichnet in seinem Standardwerk „Die Walser“ dieses Rechtsverhältnis als charakteristisch für fast alle Walsersiedlungen. Auch wenn nirgends im Wortlaut festgehalten ist, dass die Menschen deutscher Zunge aus dem Wallis kamen, leitet Zinsli die höchstallemannische Herkunft von zwei Faktoren ab. Das ist einmal der Zeitpunkt der Ansiedlung als auch die Tatsache, dass damals in den Bergen nur Bewohner des Rhonetals als deutschsprachige Landsucher in solchen Höhen anzutreffen sind. Trotz der wildesten Theorien gilt heute unter den Historikern die einhellige Meinung, dass die ersten Siedler im Tal der Bären aus dem Oberwallis stammten. Wer sonst verfügte über die Zähigkeit und das kulturelle Wissen, sich in diesem abgelegenen Bergtal dauerhaft festzukrallen? Sie rodeten die Hänge und wussten, wie man in dieser rauen Gegend Nahrung
produziert, verarbeitet und für die langen Wintermonate haltbar macht.

Umgeben vom romanischen Kulturraum
Gegen Ende des 14. Jahrhunderts zählte man laut Zinsli 48 Haushaltungen und drei Mühlen im Tal. Hinter die Frage, ob es zu dieser Zeit noch eine deutschsprachige Gegend gewesen sei, setzt Zinsli ein Fragezeichen. Es ist naheliegend, dass die alemannische Sprache im angrenzenden romanischen Kulturraum aufgegangen ist, zumal Vallorcine in Richtung Norden zum frankoprovenzalischen Unterwallis
in regem Austausch blieb. Zumindest war das während den wärmeren Jahreszeiten so, denn in den Wintermonaten war Vallorcine nur schwer erreichbar.

Ein abgeschiedenes Hochtal
Zu Beginn des 14. Jahrhunderts kam Vallorcine zu Savoyen. Das abgeschiedene Tal lebte lange Zeit als kleine, unabhängige Republik ein autarkes Leben. Erst im 18. Jahrhundert wurden Reisende auf das unbekannte Vallorcine im Gebiet des Mont Blanc aufmerksam. Im Jahr 1776, elf Jahre vor der Erstbesteigung des Mont Blanc, bestieg Marc-Théodore Bourrit den Mont Buet. Vom Gipfel des 3.096 Meter hohen Berges zeichnete er ein kreisförmiges Panorama. Touristisch wachgeküsst wurde das Hochtal noch lange nicht. Die touristische Entwicklung
verlief in Vallorcine anders als beim mondänen Nachbarn Chamonix harmonischdie Abgeschiedenheit des Tales und die verkehrstechnisch
schwierige Erreichbarkeit. Vallorcine war vor allem Durchgangsort für ausländische Touristen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Gletscher „Mer de Glace“ in Chamonix besuchten. Sie logierten in rund 20 Nobelhotels im nur wenige Kilometer entfernten Finhaut. Der Ort im Trient-Tal konkurrierte im goldenen Zeitalter des Tourismus mit Zermatt um die Zahl der Übernachtungen.


Das Museum von Vallorcine

1908 kommt die Eisenbahn
Die Eisenbahn erreichte erst 1906 von Martinach her den Grenzort Châtelard. Im gleichen Jahr geht die Bahn Chamonix Argentière in Betrieb. 1908 wird die Lücke zwischen Argentière über Vallorcine nach Châtelard geschlossen. Die sichere Winterverbindung in Richtung Chamonix kam erst 1936 mit der Eröffnung des Eisenbahntunnels Montroc. Trotzdem bleibt die Verkehrsanbindung von Vallorcine über den Col des Montets wegen der Lawinengefahr unsicher. Die schwierige Verkehrssituation im Winter behindert denn auch die wirtschaftliche Entwicklung
des Dorfes.

Bau der Gondelbahn
Der Wintertourismus begann im Jahre 1976 mit dem Bau zweier Skilifte in Poya eher zaghaft. Erst seit 2004 entwickelteWinterdestination. Die Eröffnung der Gondelbahn Posettes bringt die Anbindung an das Skigebiet Tour. In der Wintersaison 2009/2010 eröffnen zwei Vier-Sterne-
Häuser mit neuen Geschäften ihren Betrieb. Geblieben ist allerdings die Ausrichtung auf einen sanften Tourismus für Naturliebhaber, die eine ursprüngliche Landschaft wertschätzen. Auf dem Gemeindegebiet befinden sich zwei Naturschutzgebiete. Die „Réserve Naturelle des
Aiguilles Rouges“ wurde 1974 gegründet. Das Naturreservat „Vallon de Bérard“ kam 1992 als Ausgleich für die Erschliessung des Skigebietes Posettes dazu. Vallorcine hat sich in den letzten zehn Jahren kulturell und auch wirtschaftlich weiter an Chamonix angenähert. Vallorcine ist Mitglied der im Jahre 2010 gegründeten Vereinigung der Gemeinden des Chamonix-Mont-Blanc-Tals, dem die Gemeinden Chamonix-Mont-Blanc, Les Houches, Servoz und Vallorcine angehören.


Die markante Lawinenschutzmauer „Tourne“ schützt die Kirche von Vallorcine und gehört zu den eindruckvollsten Schutzbauten im Alpenraum. Die Kirche liegt abseits von zwei Weilern mitten in einem Lawinenzug. Die spitz zulaufende Schutzmauer ist drei Meter hoch und vier bis fünf Meter breit und soll Lawinenabgänge links und rechts um die Kirche ablenken. Das Bauwerk erwies sich 1720 jedoch als zu wenig hoch. Eine grosse Lawine begrub den Friedhof unter sich und beschädigte nur die Kapelle der Bruderschaft des heiligen Geistes, die innerhalb der Tourne gebaut war. Daraufhin wurde die Mauer wieder aufgebaut, breiter und stärker. Die Mitglieder der Pfarrgemeinde haben rund 4.500 Manntage geleistet. Die Steine wurden im Sommer bereitgestellt und im Winter an den Bauplatz gezogen. Im Lauf der Zeit wurde die Mauer weiter verstärkt und erweitert. Im Lawinenwinter 1999 bewies die „Tourne“ erneut ihre grosse Schutzwirkung vor Lawinenabgängen.

Vallorcine profitiert von Chamonix
Vallorcine profitiert vom Wirtschaftsmagneten Chamonix in hohem Masse. Als eine der wenigen Berggemeinden wächst die Einwohnerzahl von Vallorcine. Viele finden im Tal von Chamonix ihr Auskommen und profitieren von den niedrigeren Mietkosten in Vallorcine. Ebenfalls befinden sich Gesundheitsdienste und verschiedene Verwaltungen in Chamonix oder Argentière. Wer mit den Auto über den Col de la Forclaz in Richtung Chamonix fährt, erlebt bei der Durchfahrt von Vallorcine wenig vom Wirtschaftsaufschwung. Es ist ein typischer, wenn auch wichtiger Durchgangsort, der zwischen dem 16 Kilometer entfernten Chamonix und dem 25 Kilometer entfernten Martinach liegt. Ein richtiges Dorfzentrum ist entlang der Strasse nicht auszumachen. Die rund 450 Einwohner leben in den gut 19 Weilern, die weit verstreut auf dem Gemeindegebiet liegen. Die Kleinode in der Kultur- und Berglandschaft wollen ent-deckt werden. Selbst die Kirche liegt ausserhalb
im Weiler Le Siserey zusammen mit dem Friedhof und dem Pfarrhaus scheinbar alleine mitten in einem Lawinenzug, aber gut geschützt durch einen in seinen Dimensionen einmaligen Lawinenschutzkeil.

Walser Erbe stiftet Identität
Die Vallorcins pflegen ihre eigenständige Identität im Grenzland zwischen Frankreich und der Schweiz. Ihr Erbe als Walser ist ihnen bedeutsam. Es wird verstärkt als ein Teil ihrer Identität wahrgenommen. Das Jubiläum zum 750-jährigen Bestehen von Vallorcine war Anlass zu einer Reihe von Veranstaltungen mit identitätsstiftendem Charakter und diente vor allem auch zur Pflege des Walser Erbes. Auf die Frage, ob sich die Vallorcins eher zu Frankreich oder der Schweiz zugehörig fühlen, antwortet Xavier Dunand, Wanderleiter und Kulturvermittler, mit
zwei einfachen Armbewegungen. Zuerst weist er hinter sich, talaufwärts in Richtung Col des Montets und sagt: „Da liegt Frankreich.“ Mit der gleichen Geste zeigt er talabwärts „und da ist die Schweiz.“ Mit dieser klar verständlichen Verortung will Xavier Dunand nichts anderes sagen
als: Dazwischen leben wir Walser. Um das Erbe der Walser in Vallorcine kümmert sich mit grossem Elan der Verein Vallorsnà. Grosse Anstrengungen werden unternommen, um das, was noch übrig ist, zu erhalten und Neues zu entwickeln.

Text und Fotos: Stefan Eggel, Redaktor
Aus: „Wir Walser“ Nr. 1/2021
Halbjahresschrift der IVfW

Der Artikel ist auch erschienen in "Walserheimat 109, August 2021"

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