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Walser Regionen | Vallorcine

Was bedeuted Walser auch noch?

Interview mit Xavier Dunand

Die Vallorcins haben sich schon immer und in den letzten Jahrzehnten verstärkt als Walser gefühlt. Xavier Dunand ist Wanderleiter und Kulturvermittler. Er ist ein intimer Kenner und Förderer der Walserkultur pointiert zum über 750-jährigen Walser Erbe von Vallorcine, die touristische Entwicklung und die nicht immer einfache Nachbarschaft zum mondänen Chamonix. Außerdem freut er sich über die Aufnahme
von Vallorcine in die Internationale Vereinigung für Walsertum (IVfW).



Die Vallorciner bezeichnen sich weder als Franzosen noch als Schweizer. Wer sind sie dann?
Die Einwohner von Vallorcine fühlen sich nicht einem Land zugehörig, auch wenn sie Franzosen sind. Sie pflegen ihre eigene Identität. Das bedeutet aber nicht, die anderen auszugrenzen. Es ist eine offene Beziehung, verbunden mit der Einladung, dass jeder ein Vallorciner
werden kann. Für diesen Schritt muss auch der andere etwas aufgeben und sich öffnen, um ein Einwohner von Vallorcine zu werden. Die Nähe zur Schweizergrenze und die Entfernung zu den Verwaltungsorganen des eigenen Landes hat diese Identität, die zweifellos originell ist, verstärkt. Die Neugier der Vallorciner, immer das Beste zu suchen, auch auswärts, verhalf ihnen zu diesem Status. Es mag sogar paradox erscheinen, wenn man versucht, diese Identität zu schützen, aber tief im Inneren scheint sie heute sehr fragil zu sein.

Die Sprache wird sozusagen als die Herkunftsbezeichnung der Walser angesehen. In Vallorcine gibt es keine sprachlichen Hinweise mehr auf die Walser. Wo sind Spuren des Walser Erbes zu finden?
Auf den ersten Blick ist die Sprache eine Barriere, eine Trennung zwischen den Völkern. Die Bewohner von Vallorcine haben schon immer versucht sich anzupassen. Die Urkunde von 1264 spricht von einer Bevölkerung, die „Teutonici“ genannt wird. Diese Bezeichnung weist
auf den Unterschied zu den anderen Bevölkerungsgruppen in der Gegend hin, die eine Sprache lateinischen Ursprungs gesprochen haben müssen. Um sich auszutauschen, Handel zu treiben und zu leben, mussten die Migranten die notwendige Sprache erlernen. Vallorcine war damals sehr weit von den anderen Walsergemeinden entfernt. Sie mussten sich ansiedeln, integrieren und entwickeln. Es wundert mich nicht, dass diese neuen Bewohner schnell lernten, sich zurechtzufinden und damit vielleicht auch ihre alemannische Sprache loszulassen. Diese Anpassungsfähigkeit an andere Sprachen und andere soziokulturellen Umgebungen ist eine intelligente Überlebensstragie. Sie ist so wichtig wie die Fähigkeit, sich an das steilste, höchste und unzugänglichste Gelände anzupassen.

Können Sie unseren Leserinnen und Lesern Vallorcine vorstellen?
Vallorcine bedeutet übersetzt das Tal der Bären. Die urkundliche Erwähnung „Vallis Ursina“ bezieht sich auf den oberen Teil des Tales, welcher sich zum Kanton Wallis hin öffnet und dann ins Trient-Tal übergeht. Oder „ein französisches Land, das am Rande des Wallis entdeckt wurde.“ (P.Y. Pechoux, Geograph) Für mich ist Vallorcine ein wichtiger Kreuzungspunkt zwischen dem Rhonetal und dem unteren Arve-Tal sowie den Voralpen. InVallorcine werden die Besucher scheinbar durch die Anziehungskraft der hohen Berge im Mont-Blanc-Massiv berührt. Von jedem Weiler aus kann man durch den Einschnitt des Col des Montets einen anderen Gipfel sehen. Wer sich die Kulturlandschaft ist weitgehend intakt geblieben. Über die Landschaft hinaus ist Vallorcine nicht zuletzt von seinen Bewohnern geprägt, die sich mit dem Tal als Einheit verbunden fühlen.

Worauf ist das Tal besonders stolz?
Ich glaube nicht, dass die Menschen im Tal stolz sind. Aber wenn es eine Sache gibt, die auf die Vallorciner einstimmig zutrifft, dann ist es wohl die Tatsache, sich anders zu fühlen als die Nachbarn. Wenn man den Geschichten glaubt, scheint in Vallorcine nichts so zu sein
wie anderswo. Die Vallorciner fallen oft auf und wenn sie sich auch innerhalb des Dorfes nicht immer vertragen, zeigen sie sich darüber hinaus doch solidarisch. Diese Hilfsbereitschaft ist manchmal sogar ganz unglaublich!

Gibt es kulturelle Veranstaltungen und Bräuche, die auf der Walserkultur basieren?
Während der Arbeit in den Jahren 2005-2007 am Interreg-Programm „Walser Alps“ sind wir oft auf alte land- oder forstwirtschaftliche Praktiken gestossen, die uns noch in Erinnerung sind. Heute droht viel Wissen und ein Teil der mündlichen Überlieferung verloren zu gehen. Für mich ist aber der Geist noch da und fliesst in neue kulturelle Aktivitäten ein. Die Anzahl der Vereine und die organisierten Veranstaltungen sind der lebendige Beweis dafür. Es gibt keinen eigenständigen Brauch, der auf einer alten Walserkultur basiert, aber in jeder Veranstaltung
finden wir ein Stück unserer Bereitschaft zu Offenheit, Kreativität und Freundlichkeit. Die Frage „Was ist Walser auch noch?“ scheint mir wichtig zu sein.

In der globalisierten Welt liegt die Suche nach den eigenen Wurzeln im Trend. Hilft die Walser Herkunft bei der Suche nach der eigenen Identität zwischen dem Col de Balme und dem Col des Montets?
Die Verbindung, die wir heute mit der Walser Gemeinschaft durch den Beitritt zur IVfW hergestellt haben, ist sehr wichtig für die Identität von Vallorcine selbst. Sie erlaubt uns, zu einer Gruppe jenseits der Nachbarorte zu gehören und uns dadurch kulturell, intellektuell und touristisch zu unterscheiden. Vallorcine ist Teil der Vereinigung der Gemeinden des Chamonix-Tals. Darin fühlen wir uns aber grundsätzlich nicht sehr wohl. Der Tourismus, welcher die Welthauptstadt des Bergsteigens repräsentiert, bringt uns zwar Einkommen, aber wir erkennen unsere Tradition in dieser opportunistisch geprägten, globalisierten Tourismuswirtschaft nicht wieder. Der und familienorientierten Tourismus mit starken Werten liegt uns näher. Die Kultur der Walser mit ihren anerkannten Traditionen könnte für Vallorcine eine Garantie sein für die touristische Entwicklung auf unserem Niveau. Die Zukunft liegt zweifelsohne in der Rückbesinnung auf die Kultur der Menschen, die den Berg zu dem gemacht haben, was er ist: reich an gezähmter Natur und nah an seinen Wurzeln. Tourismus ist nicht nur Unterhaltung.

Können junge Menschen im Tal für das Walser Erbe begeistert werden?
Junge Menschen sind ein Spiegelbild dessen, was sie lernen, was sie sehen und was sie berührt. Und heute wird Heimatkunde nicht oder kaum noch unterrichtet. Ich hoffe, dass mit grösserer Anerkennung der Walserkultur auch andere Samen gesät werden können. Jeder junge Mensch träumt von etwas Besserem, weiss aber nicht immer, wie er es definieren soll. Sicher ist, dass sich alle Kinder des Dorfes als Vallorciner betrachten. In den letzten Jahren kamen vermehrt junge Familien nach Vallorcine, die von kulturellen Werten und der auseinanderzusetzen und die Erfahrungen weiterzugeben, um all diese Bewohner auf den Weg zu bringen, die Akteure von morgen zu werden. Ich denke, dass all diese jungen Menschen noch nicht wissen, welches Glück sie haben, hier aufzuwachsen. Ich selbst habe es nach und nach entdeckt und bin immer noch dabei, es zu entdecken.

Von aussen betrachtet lebt Vallorcine im Schatten des weltberühmten Ferienortes Chamonix. Wie wirkt sich das auf das Dorf selbst aus?
Es ist ein bisschen wie die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen den Annehmlichkeiten eines renommierten Ortes mit seinen Arbeitsmöglichkeiten, Sport- und Freizeitaktivitäten und auf der anderen Seite die Freiheit, in einem Bergdorf zu wohnen, das die Verbindung zwischen den Einwohnern und der Stille des Berges pflegt. Die Geschichte des Tourismus in Chamonix führt seit Anfang des 18. Jahrhunderts immer durch Vallorcine. Die beiden Täler haben sich aber unterschiedlich entwickelt. Das eine, indem es sich mit grossen Hotels und mit dem Bergsport weiterentwickelt, das andere, kleinere, indem es nüchterner bleibt, wie es die Natur vorgibt. Heute wimmelt es in Vallorcine von Besuchern. Der malerische Ort ist bei den Touristen begehrter geworden. Das führt manchmal zu schwer lenkbaren Besucherströmen. Diese saisonale Invasion ist sicherlich ein echter Beweis der Anerkennung für Vallorcine. Leider werden die Werte des
Gebiets und seiner Bewohner nicht immer respektiert.

Wie sind die Beziehungen zum benachbarten Wallis?
Mehrere dynamische Vereinigungen sind das Ergebnis unserer grenzüberschreitenden Beziehungen: Vallis Triensis für den historischen und kulturellen Aspekt, Li trei V’sin, die Volkstanzgruppe (die Vallorcine beim Walsertreffen 2019 im Lötschental vertrat), Vallée du Trient Tourisme SA, die Feuerwehrvereine usw. Darüber hinaus gibt es die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und den Nachbarregionen. Einige Vallorciner finden dort Arbeit, aber meistens erlauben es uns die finanziellen Möglichkeiten nicht, die Angebote unserer Schweizer Nachbarn voll zu geniessen.

„Endlich eine internationale Öffnung
ohne den Schatten von Chamonix.“

In der Vergangenheit bauten die Vallorciner an den Hängen von Martinach Reben an. Sie liessen sich für einige Wochen als Nomaden im Wallis nieder. Ist von dieser Tradition noch etwas erhalten geblieben?
Bereits 1922 galt Vallorcine nicht mehr als freie Zone für den französischen Staat, so dass die Vallorciner durch Zölle gezwungen wurden, ihr Land zu verkaufen. Das Einkommen und die Arbeit reichten nicht aus, um dieses erworbene Erbe zu erhalten. Das wäre heute wahrscheinlich anders. So wurde damals alles verkauft, aber die temporäre Auswanderung ist noch immer in lebendiger Erinnerung als bedeutender Teil der Geschichte Vallorcins. Es geht auch um die Frage: Wie konnten sie dieses Land erwerben? Mit dem erwirtschafteten Geld aus der Rodung von unkultiviertem Land.

In welche Richtung wird sich Vallorcine in Zukunft entwickeln?
Die Suche nach Entwicklung hat immer einen sozialen Aspekt. Es sind die Bewohner und Besitzer von Boden und Geschäften, die ihre Zukunft selbst bestimmen, soweit sie dazu in der Lage sind. Die lokale Forderung ist, ein blühendes, freies Dorfleben zu garantieren. Wie in
allen Berggebieten gibt es Investoren von ausserhalb des Dorfes, die versuchen, ihre Geschäfte zu betreiben. Mit einer starken und unverwechselbaren Identität lässt sich eine gemeinsame Zukunft vielversprechend gestalten. Die Zukunft ist immer ungewiss, aber die Orientierung der Bewohner scheint klar: Die Ausstrahlung des Dorfes ist überragend, nur über die Wege in die Zukunft scheiden sich manchmal die Geister.

Als Wanderführer und Kulturvermittler engagieren Sie sich sehr für die Sache der Walser. Was ist Ihre Motivation?
Meine Motivation ist die Suche nach Identität, um mit den eigenen Wurzeln leben zu können. Lassen Sie mich das erklären: Vallorcine ist sehr reich und jeden Tag entdecke ich, dass die Geschichte, die mir als Kind erzählt wurde, nicht in jeder Hinsicht richtig ist. Nicht, dass die Bewohner falsch lagen, sondern dass der Ort andere Werte hatte, die sie nicht mehr sehen konnten. Dieses Tal wurde durch die verschiedenen menschlichen Aktivitäten geformt, sonst wäre es wild geblieben. Der heutige Look ist nur eine weitere Schicht. Das Beunruhigende an unserer jetzigen Sicht auf die Welt ist, dass wir glauben, die Wahrheit zu kennen, weil wir die Schrift, die Technik, die Wissenschaft haben. Sicher ist aber, dass die Wahrheit von heute nicht die Wahrheit von morgen sein wird. Deshalb möchte ich den Besonderheiten der Menschen im Tal Wurzeln geben, damit sie sie weiter pflegen. Diese Verbindung mit der Walserkultur ist ein wichtiger
Schritt, denn sie ist in vielen Bereichen gut ausgeprägt. Das ist beruhigend für eine Gemeinde, die sich manchmal etwas einsam fühlt. Ich möchte gerne wissen, welche Glaubensvorstellungen und Legenden den Walsern gemeinsam sind. Im Mittelalter lebte man nicht ohne dieses Wissen. Und in der Tat, vielleicht gibt es hier Spuren davon?

Wer ist, abgesehen von Ihnen, die treibende Kraft hinter der Walserbewegung in der Vallorcine?
Ich bin der festen Überzeugung, dass alle Akteure in diesem Gebiet potenzielle Träger von Grossprojekten sind. Sie wissen nicht alle, dass das, was sie tun, eine Verbindung zu dieser Walserbewegung hat, aber das macht nichts, wichtig ist, dass wir ein tägliches Leben aufbauen,
das uns erfreut, und morgen können wir uns unter der gleichen Fahne wiederfinden, die unsere Geschichte ist.

Was bedeutet es für Sie, aber auch für Vallorcine, in die IVfW aufgenommen zu werden?
Endlich eine internationale Öffnung ohne den Schatten von Chamonix. Jetzt existiert Vallorcine als eigenständiges Unternehmen mit eigenem Namen. Vallorcine und seine Bewohner können sich im Alpenbogen wieder anerkannt fühlen. Ich danke allen aus tiefstem Herzen, die das ermöglicht haben.

Mit welchen Inhalten will Vallorcine in der IVfW auftreten?
Im Tal haben wir den Verein Valorsnà, Wurzeln und Erbe, geschaffen. Es trägt diesen Impuls, der eine andere Vision als ein kleines, isoliertes Tal, Wirklichkeit werden könnte. Am schwierigsten wird es in den kommenden Jahren sein, das, was heute noch vorhanden ist, zu erhalten. Als einziger französischer Partner haben wir nicht viel Gewicht. Wir verfügen aber über viel Herzblut. Ich bin sehr optimistisch für unsere künftigen Beziehungen. Dazu müssen wir uns sicher noch besser kennenlernen, um unsere Stärken zum Tragen zu bringen. Bergler machen immer zuerst einen Schritt zurück, bevor sie ihr Spiel offenbaren.

Die Walser Kandidatur für das immaterielle Weltkulturerbe der UNESCO nimmt Fahrt auf. Wie unterstützen Sie diese Aktivitäten?
Die Bewerbungsakte ist eine wichtige Arbeit, die nicht unterschätzt werden sollte. Auch Vallorcine könnte mit dem Prädikat Welterbe weltweite Anerkennung erlangen. Es ist also ein grosses Abenteuer, das uns erwartet.

Wo sehen Sie die Walserkultur generell in den nächsten Jahrzehnten?
Wenn das Tal das, was es im Herzen trägt, auch heute noch respektiert, dann werden wir eines Tages stolz darauf sein, diese kulturelle Verbindung wieder geknüpft zu haben. Staatsgrenzen verändern sich, aber es sind die Menschen, die ihr Land prägen, ob uns das gefällt oder nicht. Uns als das zu erkennen, was wir sind, und zu lernen, gemeinsam zu handeln, scheint mir für die kommenden Generationen ein grosser Schritt nach vorne zu sein. Ohne diese Bindungen kennen wir unsere Nachbarn und manchmal auch unsere Vorfahren nicht, weil wir so keinen aufrichtigen Austausch pflegen. Das grosse Problem der Stadtbewohner, und von den Städten aus wird die Welt ja dominiert, ist die soziale Isolation. Demgegenüber kann man in den Bergen zu sich selbst finden. Wehren wir diese städtischen Krankheiten ab und lassen wir uns unsere gemeinsame Freundschaft pflegen.

Die Fragen stellte Stefan Eggel

Aus: „Wir Walser“ Nr. 1/2021
Halbjahresschrift der IVfW

Der Artikel ist auch erschienen in "Walserheimat 109, August 2021"

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